Interview Zürcher Tagesanzeiger vom 20.12.2012

Bis dass die Knochen krachen

Aus «schneller, höher, weiter» ist «extremer und extremer» geworden, schreibt die deutsche Wochenzeitung «Zeit». Der Kulturphilosoph Jean Baudrillard nannte den Marathon «demonstrativen Selbstmord». Die Teilnahme am Lauf sei sinngemäss eine leere Hülle, bei der es um die blosse Botschaft «I did it!» gehe. In der Welt des extremen Mountainbikesports wäre «I survived it!» allerdings noch passender. An Anlässen wie der Red Bull Rampage oder für Filmproduktionen wie «Where the trail ends» gehen die Protagonisten regelmässig an ihre Limiten. Knochenbrüche gehören zum kalkulierten Risiko. Und trotz immer ausgereifteren Protektoren kommt es bedingt durch Sturzhöhe und hohe Geschwindigkeiten auch häufig zu ernsthaften Verletzungen an Kopf und Wirbelsäulen. Wieso tun sich das Athleten an? Dazu haben wir den Sportpsychologen Thomas Ritthaler von Sportpsychologie München befragt.

Worin unterscheiden sich Extremsportler von anderen Spitzensportlern?
Extremsportler suchen das kalkulierte Risiko, bei dem es weniger um das Besiegen eines anderen Athleten geht, sondern mehr um das Überschreiten eigener körperlicher und geistiger Grenzen.

Ist es nur der mediale Schein, oder hat die Popularität von extremen Sportarten in den letzten Jahren zugenommen?
Aus meiner Sicht ist es genau die Wechselwirkung zwischen extremen sportlichen Unternehmungen und der medialen Verbreitung, die in den letzten Jahren immens zugenommen hat. Menschen, die fasziniert davon sind, ihre eigenen Grenzen zu testen und immer weiter hinauszuschieben, gab es schon immer und wird es vermutlich auch immer geben. Heutzutage kommen neben der intrinsischen Motivation dieser Extremsportler perfekte mediale Möglichkeiten hinzu, das eigene Ego zu vermarkten.

Warum gehen viele Extremsportler das Risiko ein, sich bei «ihrem» Sport zu verletzen oder im schlimmsten Fall zu sterben?
Der Antrieb dieser Sportler ergibt sich aus einem Anreiztrias. Der erste Anreiz ist die Intensivierung des sportlichen Erlebnisses dadurch, dass die situative Bedrohung als erregend wahrgenommen wird. Das Bedürfnis nach abwechslungsreichen, neuen, intensiven Sinneseindrücken wird in Bezug auf extreme Risikosportarten als Thrill and Adventure Seeking bezeichnet und geht mit der Bereitschaft einher, physische und soziale Risiken einzugehen. Die zweite Anreizkomponente ist das eigene Kompetenzerleben in solch extremen, aber eben auch vitalen Anforderungssituationen. Aussenstehende mögen Risikosportler so wahrnehmen, dass diese das Risiko per se suchen, aber dem ist nicht so: Das Ausmass des Risikos wird durch die individuelle Einschätzung der eigenen Fähigkeiten bestimmt.

Haben sie keine Angst? Oder können sie diese besser vergessen als «normale» Menschen?
Es besteht kein Zweifel, dass auch sie Angst empfinden. Zwei Dinge unterscheiden diese Sportler aus meiner. Dinge, die wir schon als höchst bedrohlich für unsere Gesundheit wahrnehmen, stellen für solche Sportler kein Bedrohungsszenario dar. Zum anderen haben sie Schritt für Schritt gelernt mit der Angst ihren Sport auszuüben, sie im besten Fall sogar zu nutzen, um konzentrierter, bewusster die Situation einzuschätzen und zu bewältigen. Anders ausgedrückt: Die Angst beherrscht sie nicht, sie integrieren die Angst in ihren Sport.

Welche Rolle spielt der Ruhm – vor allem in Zeiten der dauernden medialen Veröffentlichung?
Die perfekten medialen Möglichkeiten bieten die grosse Chance, seine eigenen Vorlieben und Bedürfnisse so zu vermarkten, dass man davon leben kann. Ich kann mit dem was ich liebe Geld verdienen und muss keiner vielleicht ungeliebten Arbeit nachgehen. Aus Gesprächen mit Sportlern habe ich herausgehört, dass Ruhm als Teil des Business gerne genutzt und sicher auch genossen wird, aber nicht zentral im Fokus steht. Finanziell abgesichert kann ich öfter und besser meinem Extremsport nachgehen.

Oft erleben Sportler auch nach schlimmen Unfällen Comebacks. Sind das eher die Ausnahmefälle – oder ist es normal, dass jemand süchtig nach einem Sport ist und dabei auch vergisst, dass er dabei beinahe ums Leben gekommen wäre?
In der Tat glaube ich, dass hier in vielen Fällen von Sucht gesprochen werden kann. Neuere neurobiologische Erkenntnisse insbesondere zum mesolimbischen Dopaminsystem, dem Belohnungssystem des Menschen, bieten erste Erklärungsansätze dafür, was Extremsportler antreibt ihre Sportart auszuüben. Dopaminneurone kann man sich in dem Zusammenhang als «Vorhersage-Neurone» vorstellen, die die Diskrepanz zwischen Erwartung und Ergebnis messen: Wenn sich meine Vorhersage als richtig erweist, sorgt der Dopaminausstoss sozusagen als Belohnung für mein Vergnügen richtig gelegen zu haben. Die Dopaminausschüttung im Gehirn bleibt jedoch unverändert, wenn die Belohnung ausbleibt oder geringer ausfällt als erwartet. Die Bewältigung extremer, risikoreicher sportlicher Herausforderungen stellen somit belohnende Bewegungsereignisse dar, die zu dem Wunsch führen diese zu wiederholen. Die mit der sportlichen Herausforderung einhergehende soziale Anerkennung wirkt zusätzlich sekundärer Verstärker.

Denken Sie, dass sich viele Jugendliche durch Filme wie zum Beispiel «Where the trail ends» beeinflussen lassen? Und dann versuchen diese Stunts oder Abfahrten selbst nachzumachen?
Ich könnte mir vorstellen, dass einige Jugendliche sozusagen am Modell lernen und sich von einem solchen Film beeinflussen lassen. Aber warum schauen Jugendliche überhaupt diesen Film an? Hier stellt sich die Frage nach der Henne oder dem Ei. Deshalb glaube ich eigentlich nicht, dass es ohne das Vorliegen einer gewissen Disposition zur Risikofreudigkeit, eigenen Lernerfahrungen und/oder einem begünstigenden Umfeld allein durch einen Film zu einer nachhaltigen Entwicklung dieser Jugendlichen hin zu einer Extremsportart kommt.

Sehen Sie eine Tendenz in unserer Gesellschaft, dass alles immer mehr in die Richtung «einzigartiger, extremer, aussergewöhnlicher, herausfordernder» geht? Wenn ja – woher stammt diese Tendenz?
Individualität und Aussergewöhnlichkeit sind in der heutigen Zeit vermeintlich wichtige Werte. Arnold Retzer schreibt in seinem jüngst erschienen Buch «Miese Stimmung» von der Erfolgsgesellschaft, die die Leistungsgesellschaft abgelöst hat und in der es eigentlich weniger um Leistung als mehr um Beachtung geht. Jeder möchte autonom, selbstbestimmt und anders sein, um seine persönliche «Ich-AG» zu vermarkten. Deshalb trifft Extremsport aus meiner Sicht den Nerv der Zeit. Was dabei übersehen wird, ist, dass das beständige Streben «einzigartiger, extremer, aussergewöhnlicher, herausfordernder» zu werden zum Mainstream wird und damit so gar nicht mehr einzigartig ist. Dabei rede ich weniger von den Extremsportlern, die intrinsisch motiviert ihre eigenen Grenzen verschieben wollen und sich belohnende Bewegungsereignisse verschaffen wollen, sondern mehr von einer Gesellschaft, die solches Bestreben zusätzlich verstärkt.

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