„Quäl Dich, Du Sau!“ Mit diesem etwas derben Zuruf versuchte Udo Bölts seinen gesamtführenden Teamkapitän Jan Ullrich 1997 auf der 18. Etappe der Tour de France besonders energisch anzufeuern. Denn in den Vogesen brach dieser plötzliche ein und fiel zurück. Noch immer ist der Spruch ein berühmtes Zitat, wenn man sich mit den Themen Motivation und Wille beschäftigt.
Was damals ganz Deutschland gebannt vor den Fernsehern verfolgte, war einerseits erleichternd: Auch die Willensstärke von extrem motivierten und disziplinierten Spitzensportlern kann offenbar mal schwächeln. Schließlich zweifeln wir ja alle schnell an unserem eigenen Durchhaltevermögen, wenn wir z. B. schon nach kurzer Zeit unsere Neujahrsvorsätze wieder über Bord geworfen haben – egal ob es dabei um gesündere Ernährung und mehr Sport im Alltag oder weniger Überstunden im Job gegangen ist.
Andererseits macht jeder große sportliche oder berufliche Erfolg, den wir beobachten, auch immer ein bisschen neidisch… Weil mache Menschen trotz „harter Bergetappen“, Rückschlägen und widrigen Bedingungen aller Art nicht aufgeben und sich doch noch zu ihren Zielen kämpfen. Sei das trotz Rückstand im Finale einer WM, trotz 40 Grad Hitze bei einem Iron Man, bei einem Comeback nach langer, zermürbender Verletzungsphase oder bei einem beruflichen Erfolg im zweiten Anlauf, obwohl eine Strategie zunächst nicht auf- und Investitionen verloren gegangen sind. Schließlich hat auch Jan Ullrich die Tour de France damals noch gewonnen – als erster und bislang einziger Deutscher überhaupt.
Aber wieso ist das so, dass manche Personen mit scheinbar unbändigem Willen ihre Vorhaben konsequent verfolgen und erreichen – während andere schon beim leichtesten Gegenwind die Segel streichen, auch wenn Tatendrang und Entschlossenheit anfangs riesig waren?
Stimmt es wirklich, dass Sieger nicht zweifeln und Zweifler nicht siegen?
Fehlt es den meisten von uns einfach an Selbstvertrauen und Selbstdisziplin?
Die wichtigste Botschaft aus der Sportpsychologie dazu ist: Willensstärke ist trainierbar! Und noch wichtiger: Nur wer ein persönlich bedeutsames, emotionsbesetztes Ziel hat, ist wirklich motiviert. In diesem Beitrag erklären wir, wie sich Methoden aus der Sportpsychologie auf persönliche Vorsätze im Privatleben oder Ziele im Arbeitsumfeld und in Unternehmen übertragen lassen.
Der Wille: der kleine Bruder der Motivation
Um den Unterschied und das Zusammenspiel von Motivation und Wille zu verstehen, kann man sich die Reise einer Rakete in Richtung Mond vorstellen. Hat sich die Rakete erst einmal von der Anziehungskraft der Erde gelöst (symbolisch für die alten Gewohnheiten), gleitet sie zunächst scheinbar mühelos durchs All. Der Mond ist ihr langfristiges Ziel. Er verfügt über eine starke Anziehungskraft, weil wir bzw. die Rakete ihn unbedingt erreichen wollen. Auf der langen Reise können jedoch immer wieder Störfaktoren auftreten, etwa Ablenkungen durch andere Himmelskörper. In diesem Fall brauchen wir eine zweite Kraft, die die Rakete auf Kurs hält – und zwar die Willenskraft. Sie wirkt wie ein Raketenanschub und hat damit die entscheidende Hilfsfunktion, um attraktive Ziele auch langfristig zu verfolgen und letztendlich zu erreichen.
Leicht nachzuvollziehen ist, dass wir mit der reinen Anziehungskraft des Mondes deutlich energiesparsamer unterwegs wären als über den Extra-Raketenanschub. Das gilt auch für unser Leben. Wer nur über den Willen versucht, seine Ziele zu erreichen, wird bald müde und erschöpft sein. Wichtig ist also zum einen, dass die Anziehungskraft unseres Ziels wirklich stark ist – ggf. müssen wir Methoden finden, um sie zu verstärken. Zum anderen ist das persönliche Energiemanagement für den Antrieb der Willensstärke entscheidend. Nur wer dafür sorgt, dass der Tank stets voll ist, dem steht die Energie für eine hartnäckige Zielverfolgung zur Verfügung. Wer hingegen über wenig Willensstärke verfügt oder keine Strategien lernt, um sie zu fördern, wird sich bereits vom kleinsten Hindernis aus der Bahn werfen lassen. Und sein Ziel nie erreichen.
Beyond „SMART“:
Die meisten kennen Zielsetzungsstrategien wie das Festlegen von Etappenzielen oder Prozesszielen statt nur eines fernen Hauptziels. Oder Zielformulierungen nach dem SMART-Prinzip (spezifisch, messbar, ambitioniert, realistisch und terminiert). Solche Vorgehensweisen sollen die Motivation stärken.
Und ja, auf jeden Fall können diese Strategien der Zielformulierung uns dabei unterstützen, ein Ziel zu erreichen. Aber genau genommen sind sie eher Hilfen bei der Umsetzung als echte Motivationsstrategien. Ein Skifahrer steht nicht wochenlang morgens um 4 Uhr auf, um auch im Sommer auf dem Gletscher trainieren zu können, nur weil er sich seinen Trainingsplan nach dem SMART-Prinzip geschrieben hat. SMART ist eher eine Strategie, um überprüfbar zu machen, wann genau welche konkreten Einzelschritte zu tun sind, um ein großes Ziel (wie z. B. die Olympiateilnahme oder die Veränderung einer Unternehmensstrategie) zu erreichen.
Was SportlerInnen wirklich langfristig motiviert, ist vielmehr die persönliche Vision, die er oder sie verfolgt, die Emotionen, die damit verbunden sind und die grundsätzliche Freude an dem, was sie tun. Bevor wir uns überlegen, wie wir ein Ziel in konkreten Teilschritten erreichen, sollten wir uns also zunächst überlegen, was uns wirklich antreibt.
Die Frage aller Fragen: WOFÜR?
Im übertragenen Sinn ist der Mond also das noch weit entfernte Hauptziel einer Person. Er steht für die Vision und damit den Sinn, für den sich der ganze Aufwand lohnt. Der Mond sorgt für die Anziehungskraft, die der Rakete Richtung verleiht und „von vorne“ Richtung Ziel zieht. Egal ob im Sport, im Beruf oder bei privaten Zielen: Um die Anziehungskraft des Mondes zu stärken, ist das „Wofür“ entscheidend. Wer sein „Wofür“ kennt und klar beschreiben kann, wird einen Weg finden.
Antworten auf Fragen rund um das persönliche „Wofür“ geben immer Auskunft darüber, was einer Person wirklich wichtig ist – und sind damit die Grundbausteine jeder langfristigen Motivation:
- Wofür trete ich an?
- Wofür verfolge ich dieses Ziel?
- Wofür möchte ich Zeit und Energie investieren?
- Was genau ist so attraktiv für mich an diesem Ziel?
- Welche positiven Emotionen verbinde ich mit dem Ergebnis?
Viele Menschen scheitern trotz anfangs hoher Motivation an ihren Vorsätzen und Vorhaben, weil sie sich mit diesen Fragen gar nicht auseinandergesetzt haben. Und ihnen die Methoden fehlen, eine emotional besetzte Vision zu entwickeln.
WIE: Bewältigungsstrategien für potenzielle Hindernisse
Wenn alle Fragen rund um das „Wofür“ beantwortet sind und so die grundlegende Motivation gestärkt ist, kommen die konkreten Strategien ins Spiel, um das Ziel trotz Alltagshürden zu erreichen. Es geht nun also um das „WIE“.
Ob es der leckere Duft und das „2 für 1“-Krapfen-Angebot in der Bäckerei ist oder die „Ach komm, noch einen Wein“-bestellenden Freunde in der gemütlichen Bar. Das schlechte Wetter und die Müdigkeit vor der geplanten Trainingseinheit. Oder die radikalen Sparpläne des neuen Vorgesetzten oder die Absage für die Traum-Stelle nach der dritten Bewerbungsrunde. Es gibt ganz unterschiedliche Hindernisse, die uns von Zielen und Vorhaben abbringen können. Im Alltag, im Sport und in der Arbeitswelt.
Damit genau das nicht passiert, ist ein weiterer wichtiger Baustein der Zielerreichung, sich schon im Voraus zu überlegen, wie man ganz konkret auf solche potenziellen Störfaktoren reagieren wird. Vielen Menschen helfen mentale Tools wie im Vorfeld festgelegte Handlungspläne, um mit all den großen und kleinen Störern umzugehen, die die Rakete ausbremsen oder ganz stoppen könnten. Denn wer solche Strategien hat, ist mental und praktisch vorbereitet und kann verschiedenste Hindernisse leichter überwinden, ohne dabei unnötig viel Willenskraft zu verbrauchen.
Auch die wissenschaftlich fundierte WOOP-Methode zur Zielerreichung von Gabriele Oettingen („Wish“, „Outcome“, „Obstacle“, „Plan“) empfiehlt zunächst die Auseinandersetzung mit den Themen „Wunsch“ und „Ergebnis“ (also dem von uns beschriebenen „Wofür“) – und dann den Themen „Hindernis“ und „Plan“.
Tool-Tipp: Wenn…, dann… -Pläne
Eine sehr wirkungsvolle Methode aus der Sportpsychologie sind etwa „Wenn…, dann…-Pläne“: SportlerInnen, die sich auf wichtige Wettkämpfe vorbereiten, gehen vorab durch, was bei dem Event alles passieren könnte. Und notieren im Vorfeld ganz konkret sowohl mentale als auch praktische Strategien für diese Stressfaktoren, Willenskraftschwächer oder Motivationslöcher: „Wenn, das Skirennen wegen schlechter Sicht und Sturm unterbrochen wird und eine lange Wartezeit entsteht, die mich nervös macht, dann höre ich Musik zur Entspannung und mache Lockerungsübungen für meinen Körper“. „Wenn ich im Tennismatch den ersten Satz unerwartet gegen eine vermeintlich schwächere Spielerin verliere und meine geplante Taktik nicht funktioniert, dann mache ich eine kurze Atemübung und besinne mich auf ein Code-Wort oder ein inneres Bild für meine Stärken“. „Wenn ich beim Hockey-Finale unerwartet als Schützin fürs Penalty-Schießen ausgewählt werde, weil die ursprünglich eingeplante Spielerin sich verletzt hat, dann visualisiere ich so lebendig wie möglich, wie ich den letzten Penalty erfolgreich versenkt habe.“
Weitere Tool-Tipps:
Neben solchen Wenn-Dann-Plänen gibt es eine Vielzahl weiterer Strategien. Dabei sind es oft die kleinen Tipps, die uns auf Kurs halten:
- Mitstreiter suchen: Wir verpflichten uns mit festen Terminen, haben so automatisch auch ein soziales Erlebnis und „Leidensgenossen/innen.“
- Routinen schaffen: Sich immer wieder neu zu entscheiden (z. B. für eine Trainingseinheit), ist anstrengend. Feste und regelmäßige Abläufe helfen dabei, das Vorhaben ohne „Soll ich heute oder mach ich‘s einfach morgen?“ durchzuziehen.
- Visuelle Anker setzen: Der klassische Erinnerungs- oder Motivations-Post-It am Spiegel oder auf dem Nachttisch, die Laufschuhe mitten im Flur/ in der Küche oder Passwörter am Handy und Computer so zu wählen, dass sie das persönliche Ziel benennen: All das kann helfen, sich das eigene Ziel immer wieder vor Augen zu führen.
- Die Vision aussprechen: Anderen seine Ziele und Visionen mitzuteilen, erhöht die Verpflichtung dem Ziel gegenüber. Niemand möchte auf freundliche Nachfragen immer wieder antworten: „Ähm, hab ich nicht gemacht/geschafft.“
- Selbstgespräche: Wer sich ständig im Kopf sagt: „Das schaffe ich eh nicht“ oder „Das halte ich eh nicht lange durch“, für den wird das Ziel tatsächlich schwer erreichbar sein. Hilfreicher für die Motivation sind realistisch-motivierenden Selbstgespräche wie „Es ist schwierig, aber ich mache eins nach dem anderen und gebe bei jedem Schritt mein Bestes.“
Eine beruhigende Nachricht aus der Sportpsychologie ist also: Hohe Motivation ist nie ein Dauerzustand, es ist völlig natürlich, dass sie schwankt.
Dann hilft es, sich an das „Wofür“ zu erinnern und sich seinen ganz persönlichen Mond nochmal bewusst zu machen. Auch der Raketenantrieb „Willenskraft“ kann nicht immer Vollgas geben und wir müssen aktiv daran arbeiten, den Tank immer wieder neu zu befüllen. Es lassen sich auch nicht immer alle Hindernisse auf dem Weg zu einem Ziel voraussehen. Ab und zu über Hürden zu stolpern, gehört zu jedem Weg dazu.